Rede von Ludwig Haugk zur Eröffnung der Ausstellung im Kultur Bahnhof Eller Ludwig Haugk PROCESS/FOCUS/CONTACT Ich bin gebeten worden, einige Worte zur Eröffnung dieser Ausstellung zu sagen. Ich komme vom Theater – kann also über die Wirkungskraft der drei Installationen als für sich stehende Kunstwerke wenig aussagen. Sie werden also verzeihen müssen, dass ich sie als Theater beschreibe, und diesen wunderbaren Raum hier für einige Minuten zum Theater erkläre. Die drei Künstlerinnen haben die Möglichkeit bekommen und ergriffen, für diesen Ausstellungsraum Installationen zu entwickeln – und das ist für Bühnenbildnerinnen natürlich eine einzigartige Gelegenheit. Frei von den Zwängen der Dramaturgie eines Stücks, den Bedürfnissen von Schauspielern und Regisseuren, den Sachzwängen der technischen Gegebenheiten des Repertoire-Theaters eine Idee frei fliegen zu lassen. Ich behaupte dennoch, dass hier ein Stück Theater entstanden ist, ein Theater, in dem wir zugleich Zuschauer und Schauspieler sind. Der Titel der Ausstellung ermutigt mich dazu: Prozess, Kontakt, Fokus – das ist im Grunde alles, worum es im Theater geht. Auch wenn die Ideen zu den drei Arbeiten getrennt von einander entwickelt wurden, ist in der Zusammenführung hier in Eller ein Triptychon entstanden – drei für sich stehende, aber einander ergänzende Stücke, drei Akte eines Dramas. Ausgangspunkt für die drei Künstlerinnen war „Antigone“, ein uraltes Theaterstück. Auch wenn die Arbeiten von Susanne Hoffmann, Simone Grieshaber und Mirjam Pajakowski komplett ohne Antigone als Bezugspunkt lesbar oder besser gesagt: erfahrbar wären, kann ich dieses Wissen um den antiken Bezug nicht ganz ausschalten, wenn ich die Räume hier betrete. Prozess – Fokus – Kontakt: diese drei weiten Begriffe waren ursprünglich den einzelnen Arbeiten zugewiesen. Im Laufe der konkreten Entwicklung hier in Eller wurde klar: jeder der Begriffe lässt sich auf jeden der drei Räume anwenden – nicht weil die Begriffe beliebig gewählt sind, oder die Kunstwerke so unkonkret, das man alles darüber sagen könnte, sondern weil der Widerspruchsraum, den das Stück eröffnet und die Bilder, die es aufruft, diese drei Begriffe aufdrängen. Es ist ein neues Theaterstück jenseits der Sprache entstanden, nicht drei Bühnenbilder für Antigone von Sophokles, sondern eine Übersetzung in drei Teilen. Drei Teile, die nicht einer Narration oder Chronologie folgen, die stattdessen immer neu ansetzen oder anatmen, wie es im Theater heißt, wenn der Impuls zum chorischen Sprechen gesetzt werden soll. 1. Akt RAUM A Susanne Hoffmann hat ihre Arbeit mit RAUM A betitelt. Das A steht vielleicht für Antigone, vielleicht aber auch für Antike. Vor allem aber scheint er von einer Art Ausgangserfahrung zu erzählen. Es ist ein Prozessraum in mehrfacher Hinsicht. Denn dieser erste Akt dauert sehr lange. Er wird so lange gespielt, wie der Kulturbahnhof Eller diese Ausstellung erträgt. Wir werden nachher diesen Raum betreten, werden die Schwelle überwinden müssen, Spuren zu hinterlassen. Der Boden besteht aus feuchtem Ton, die Spuren die wir hinterlassen, werden für folgende Zuschauer lesbar, sie werden zu Spuren einer Antike werden, die für die Besucher der nächsten Tage erst wenige Stunden her sein wird. In ihren Zeichen werden diese Spuren aber genauso anonym, fremd und gleichzeitig nah sein, wie uns die Antike ist. Wir wissen nichts von Antigone, können noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, wo Theben lag, wir haben keine Ahnung, wie dieses Stück damals aufgeführt wurde. Es ist diese Fremdheit, die Antigone zu einer Erfahrung macht. Susanne Hoffmann stellt Kontakt mit dieser Fremdheit her. In Antigone spielt der Boden eine zentrale Rolle. Der Boden, das Grab ist der Ausgangspunkt des Stücks – der Boden, die Erde ist das unfreiwillige Archiv eines Landes, in ihm liegt die ungeschriebene Geschichte verborgen. Indem Susanne Hoffmann den Boden, die Erde in den Raum zieht, entsteht eine seltsame Umkehrung: das Verachtete, Getretene wird zum Heiligtum, zum spirituellen Raum. Er ist das Grab von Polyneikes, er ist vielleicht das Gefängnis von Antigone. Er führt aber auch an die Frage nach Hinterlassenschaft und Erbe. Jeder Schritt ist bewusst und individuell, die Spur aber wird schon heute Nachmittag, so sehr wir uns auch bemühen, nicht mehr klar lesbar sein. Sie wird in Kontakt getreten sein mit den Spuren der anderen, es wird sich eine kollektive Erzählung abbilden, deren Teil wir sind, die wir aber nicht kontrollieren können. Der fokuslose Raum lenkt den Fokus nach innen, der Klang fordert ein Einlassen auf einen Dialog, den wir kennen aber in seiner Reduktion vergessen haben. Ein A-Dialog, ein Anfang, oder besser die Erinnerung an einen Anfang. Die Erinnerung an einen Kontakt, der verloren gegangen ist. 2. Akt: KABINETT Simone Grieshabers „Kabinett“ führt in einen Alptraum. Mitten im Bahnhof Eller fährt ein Zug, der nicht anhält – eine endlose Fahrt durch die Schattenwelt von Platons Höhle. Wir erkennen: Schatten, flüchtige Aufrisse einer Landschaft, aber es bleibt keine Ruhe, den Fokus, auf den wir gelenkt werden, zu verarbeiten. Simone Grieshabers Zug durchmisst die Distanz zwischen Antigones Blick und unserer Gewissheit zu wissen, was wir sehen. Fokuswechsel: wie kleine Kinder stehen wir Schauspieler vor einer weißen Box und starren eine Spielzeugeisenbahn an. Grieshaber spielt mit dieser Faszination der persönlichen Antike: Dampflokomotive, Taschenlampe. Wir beobachten uns beim Beobachten und werden hineingezogen in den Prozess der Geschichte. Simone Grieshabers Arbeit führt hinein in den Boden, in den Untergrund, in ein Totenreich der Erkenntnis, zu dem sie die Schauspielerzuschauer Kontakt aufnehmen lässt. Ungeheuer ist vieles. 3. Akt: ENTKOPPELT „Gesellschaft“ ist ein schwieriges Wort, man mag es nicht hören und nicht sagen. Nennen wir es lieber mit „Antigone“: Stadt. Mirjam Pajakowskis Arbeit heißt „Entkoppelt“. Sie hat über den Boden der Geschichte eine schwebende Stadt gebaut. Der holländische Architekt Konstant hat Mitte der Sechzigerjahre eine solche Stadt entworfen: Sein „New Babylon“ war ein utopischer Entwurf, der die komplette Überbauung des Ruhrgebiets vorsah: während oben, im über der alten Stadt schwebenden Neubau eine utopische Gesellschaft neue soziale Formen probiert, lässt der Entwurf unten die alte Welt in Ruhe sterben. Mirjam Pajakowskis Stadt ist im Schwebezustand. Der Kontakt zwischen Götterhimmel und dem Boden der Geschichte ist fragil, er droht zu zerreißen, abzustürzen, eine mühsam austarierte, aber in jeder Sekunde gefährdete Balance hält die Stadt in ihrer Position. Die Häuser dieser Stadt sind aus Papier geklebt, dem Trägerstoff der Schrift, der Dramen und der Akten. Sie sehen aus wie Monopoly-Spielsteine, die ihre Schwere verloren haben, und aus der kapitalistischen Horizontale in die Vertikale ihrer historischen Verankerung und der Suche nach einer Vision geraten sind. Das Spielfeld öffnet sich so für uns Schauspieler, wir müssen uns einen komplizierten Schlängelweg durch den Raum suchen, in dem die Frage zu stehen scheint: wie lange halten wir den politischen Schwebezustand aus: wann fangen wir an zu reißen, zu ziehen, in Besitz zu nehmen? Für die Veränderung der Gesellschaft zeichnen wir als Akteure dieses Stadtraums selbst verantwortlich, schon unsere Atemluft und die Körpertemperatur der Anwesenden bestimmt die Formation der Stadt. Drei Arbeiten über/hinter/unter Antigone, in deren Fokus wir stehen: im Prozess, in Kontakt mit anderen. Das erste Wort in Hölderlins Antigone-Übersetzung heißt: „Gemeinsamschwesterliches!“. Dem ist nicht mehr hinzuzufügen, als die Aufforderung, das sprachlos sprechende Theater der drei Künstlerinnen zu betreten und gebrauchen. Viel Vergnügen.